SPIRITUOSEN, MOCCA ETC.
Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2017)
Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2017)
Baudelaire hat Geburtstag, den hundertsiebenundneunzigsten, schönes Alter, ein paar Sätze weit will ich ihm gratulieren. Der Dichter hat mich, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe, nie mehr ganz losgelassen. Er befand sich im Raum, auch in den heikleren Situationen, und er war dabei, wenn ich tagelang durch die Straßen einer Stadt gestreunt bin um mich nach dem definitiv Unauffindbaren umzusehen. Facebook und Google wissen Bescheid: Ich bin regelmäßiger Baudelaire-Nutzer.
Wie es zum ersten Baudelaire-Lesen gekommen ist? Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Das initiale Ereignis muss unter den Ablagerungen nachfolgender Leseereignisse begraben worden sein. Ich erinnere mich nur an die grässlichen deutschen Übersetzungen, an diese in ratternde Reimschemata gezurrten Verse, zwangsgoetheisiert, mit einem übergestülpten Pathos versehen, das den Originalfassungen völlig fremd war. Friedhelm Kemp, den großen Übersetzer, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, mit der französischen Sprache war ich erst am Anfang. Ich musste eine Lesemethode entwickelt haben, die störende Elemente ausfiltern und die Worte in ihren Rohzustand zurücksetzen konnte.
Zur selben Zeit kamen die Aufsätze von Walter Benjamin ins Haus. Darin erschien Baudelaire als Seismograph, der das unter den Oberflächen der großen Städte spürbare Brodeln gewittert, minutiös registriert, aus seiner Formlosigkeit erlöst und intuitiv auf künftige Jahrzehnte, Jahrhunderte hochrechnet hat.
„Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das [die Fleurs du mal; Anm.] einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, dass das eine weit blickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit bereitgestellt.“ (Benjamin, 1939)
Baudelaire lesen: Ein Mensch in der Masse mit fast monströs geschärftem Blick. Unter tausend beiläufigen Blickkontakten ergeben sich welche, die einen plötzlichen Aufschwung auslösen oder direkt in Richtung Abgrund führen … Chocrezeption – dieses unentwegte Ausbalancieren, Mischen, Neudurchmischen und Weiterverarbeiten prekärer Sinneseindrücke. Die Kellergewölbe des wahrnehmende Subjekts führen direkt in die Kellergewölbe der mehr oder minder zivilisierten Gesellschaft. Manchmal ist von dort aus ein Stück Himmel zu sehen.
Jede einzelne Person aus der Masse stellt für sich genommen eine perzeptive Versuchsanordnung dar. Baudelaires Denken und sein vom Alltagsleben durchtränktes Schreiben haben, wie Yves Bonnefoy in seinem Buch Das Jahrhundert Baudelaires (La Siècle de Baudelaire, 2014) gezeigt hat, eine Revolution ausgelöst: enorme Ausweitung, neuartiges Fiebern im Gebrauch der Worte … jede Zeile drängt darauf, das Leben – nicht die Dichtkunst oder die Literatur – zu verändern.
Inzwischen blicken wir unter digitalen Bedingungen und durch neurowissenschaftliche Optiken auf solche zugleich individuellen und kollektiven Bebenwellen. Unsere Messungen tragen wir in Blogs oder die Schreibvorlagen sozialer Medien ein. Eines ist seit Baudelaire gleich geblieben: Aus dem Inneren der Erschütterung werden Sprache und Rhythmus generiert. Aus den Hohlräumen zwischen den dicht gedrängten Leibern am Bahnsteig dringen die Ausdünstungen, Gerüche, Geräusche des reizbaren Gesellschaftstiers. Im urbanen Durcheinander werden in jeder Sekunde unermessliche Potenziale von Aussagekräften freigesetzt. Man kann diese Erfahrungsschicht ignorieren oder als poetische, soziale Produktivkraft nutzen. Baudelaire hat es getan. Er musste vieles zugleich sein, um die seiner Epoche entsprechenden bildgebenden Verfahren hervorzubringen: Wahrnehmungs- und Stadtforscher, Kunstkenner und Kritiker, Zeichner und Musiker, Arzt und Patient, irrwitzig Liebender und haltlos Hassender, Abenteurer und Stubenhocker, alles in einem.
Mit den Jahren gesellten sich Marcel Proust, Paul Valéry, Gaston Bachelard, André Breton, Pierre Emmanuel, Henri Meschonnic, Florence Trocmé und gefühlte hundert weitere Namen dazu. Alles Leute, die auf je eigene Weise durch das Baudelaire'sche Werk hindurch agiert und produziert haben – das Netz oder der Vicious Circle. Dazu gehören auch Brigitte Fontaine, der kürzlich verstorbene Musiker Higelin oder Gerhard Fischer, später Mitbegründer der Gruppe Daedalus, der im September 1980 eine aufgelassene Wiener Bäckerei mit einer im besten Sinn befremdlichen Baudelaire-Installation bespielt hat. Sie alle berufen sich auf den simplen verbindenden Akt: eines seiner Bücher zur Hand nehmen, egal welches, schauen, ob der Funke überspringt und, wenn ja, an welcher Stelle, wie genau und wohin…
Die Auswahl ist groß. Zur Verfügung stehen nicht nur die Fleurs du mal, deren 'Böses', wie Georges Bataille in Die Literatur und das Böse mutmaßt, bereits in der Schreib-Disposition und Selbstermächtigung des Autors begründet ist, auch der Spleen von Paris (hier beispielsweise Das zweifache Zimmer oder Schießplatz und Friedhof), die Tagebücher (Journaux Intimes) und Briefe, das Strandgut (Les Épaves), die kleinen Prosa-Fragmente oder längeren Erzählungen, Fanfarlo, die Essays zur zeitgenössischen Kunst, die Poe-Übersetzungen oder auch, warum nicht, Die künstlichen Paradiese.
Übrigens kommen die darin erwähnten psychotropen Substanzen bei Baudelaire nicht sonderlich gut weg. Er durchlief die Laster – mit Haut und Haaren – und schüttelte sie überdrüssig ab. Um seiner Spur bis zum Letzten folgen zu können, musste er in jedem Moment sein schonungslosester Kritiker bleiben. Daher das Paradox: Der Baudelaire‘sche Rausch ist ein nüchterner Rausch. Rauschmittel würden diese fragile Übereinkunft von Konzentration und Zerstreuung, Aufschwung und Absturz nur stören. Er ist Teil einer Überlebensstrategie.
Wenige Jahre vor seinem Tod arbeitete Baudelaire an einem Vorwort für die dritte Auflage der Fleurs du mal – "in dem ich meine Tricks und meine Methode erklären und jeden die Kunst lehren werde, ein Gleiches zustande zu bringen" (Brief an Michel Lévy, 1862). Der "Sänger der wilden Lüste des Weines und des Opiums", sehnte sich vor allem nach Ruhe und nach einer Nacht ohne Ende:
Also lass mich das vorletzte Glas auf dich erheben, Baudelaire, du unendlich Getriebener und unwilliger Lehrmeister, auf dich und deine hundertsiebenundneunzig Jahr! Ach, wenn du heute bei uns wärest! Gendermäßig müssten wir dich freilich noch briefen. Lass mich dir einen Satz von Henri Meschonnic zurufen, den ich ohne dich nie kennengelernt hätte. Er hat übrigens eine merkwürdige Studie zum Rhythmus in deinem Herbstgesang, Chant d'automne, verfasst. Der Satz eröffnet den Essay Wie man lernt, nicht zu wissen, was man tut (2008):
„Es ist das Unbekannte, das uns führt, uns dominiert.
Es macht das Denken leidenschaftlich, denn nur durch unser Unbekanntes machen wir uns auf den Weg nach uns selbst.
Dieses Unbekannte in uns selbst und dieses Denken sind in derselben Suche begründet wie das Unbekannte des Subjekts, das Unbekannte des Gedichts, das Unbekannte der Kunst, das Unbekannte der Sprache, das Unbekannte der Ethik, das Unbekannte der Politik.
Das Unbekannte der Gesellschaft…“
Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2016)
Am Anfang war die Asthma-Attacke
Atemnot Angstzustand Asphyxie
Atemübung – der angenehme Apotheker beim Westbahnhof hatte ihm dazu geraten. Dieser Mann war eine Ausnahmeerscheinung. Wenn es seiner Kundschaft half, handelte er gegen sein Geschäftsinteresse.
amertume – was für ein Wort, eine klangliche Achterbahnfahrt. Es beginnt im tiefen Schwarz des A – "schwarzbehaarte Mieder glanzvoll prächtiger Fliegen, die summend schwärmen…" (Rimbaud) –, holt im schneeweißen E zum Schwung aus und hebt ab zum absinthfarbenen Grün des U/Ü; zuletzt der unbetonte Auslaut – l'amertume de la vie
Ausnahmezustand – seit jeher, überall, man gewöhnt sich – nicht gern
Auflistung – was alles und wer aller sich im Ausnahmezustand befand: der Planet Erde; die Kontinente, ein jeder auf seine Art; die Meere oder maritimen Müllhalden; die verschwindende Vogelwelt; der verbleibende amerikanische Präsident; diese digital getakteten und optimal vernetzten Einzelwesen am Rand des Nervenzusammenbruchs; der Nahe Osten; Europa, die Europäische Union… – nicht zuletzt Österreich mitsamt seinen Geheimdiensten.
AMS – auch der österreichische Arbeitsmarktservice war in die Schlagzeilen geraten. Es war ja nicht so, dass es sich dabei um eine Lieblingsinstitution des alternden Lesers gehandelt hätte, aber was da augenblicklich im Gange war, verhieß nichts Gutes: das große Sparen an falscher Stelle – Ausgrenzung, Ausschließung, Aussetzung
– im neuen Stil.
Amor fati – eine Grundbedingung für das Überleben unter 2018er-Bedingungen.
Arturo Benedetti Michelangeli – ohne ihn ging in diesen Tagen und Wochen gar nichts
Ankommen – sich im Sinn einer Als-ob-Konstruktion einen Ankerplatz ausmalen, einen Quasi-Anfang machen, aufbrechen…
Ausflug – vielleicht nach Annaberg. Doch lieber nach Athen? Ach was
An die Arbeit. Für Österreich. – Es gab da neuerdings einen Kanzler, dessen Namen sich der alternde Leser nicht merken konnte oder wollte; nachdem es sich um keinen Namen mit A handelte, war es egal. Aalglatt war der und fallweise außerordentlich arrogant, dabei ein farbloses Bürschchen mit schwach entwickelter Stimme; ein Politik-Avatar, gespenstisch ausdrucks- und eigenschaftslos. (Macht der Leere, hatte Thomas Stangl dieses Phänomen genannt.) Er liebte es Armutsgefährdeten und Alten, Alleinerzieherinnen mit geringem Einkommen, Arbeit- und Asylsuchenden zu sagen, wo es lang ging.
Der Leser war im Ausgangsbereich eines Amtsgebäudes auf sein Antlitz gestoßen. Es prangte auf einem Plakat mit dem banalen Stakkato:
An die Arbeit - Punkt - Für Österreich - Punkt.
Appell – Der Satz auf dem Plakat war zugleich als kanzlerhaftes Bekenntnis und als Aufruf gedacht, er richtete sich an alle. Aber warum speziell für Österreich arbeiten? Warum nicht beispielsweise für Europa – das liefe dann auf keinen Punkt, sondern ein Liniengeflecht hinaus –, oder für die Stadt, in der man sich aufhält, oder für das soziale Gefüge, dem man angehört und das mit autoritären Gesellschaftsentwürfen nichts anfangen kann. Warum nicht für ein Allgemeinwohl arbeiten, das nicht nur gelernten Österreichern oder – unappetitlich ausgedrückt – Autochthonen vorbehalten bleibt?
Der Leser jedenfalls empfand dieses Plakat als symptomatisch für die Epoche und ihre schalen Helden. Es erschien ihm als
Augenauswischerei
Adjektivdiät!
Arbeit – konnte vieles sein, das Höchste, Anregendste oder das Niederschmetterndste. André Breton hatte es vor neunzig Jahren so ausgedrückt:
autoritäre Driften… – in Europa…
Anders denken, leben, es zumindest versuchen
An-Denken – Wir wissen, dass diese Gedanken, die uns miteinander verbinden nicht einfach Gedanken wie alle anderen sind; wenn ich beispielsweise nicht aufhören kann, an deine Ankunft oder deine Abfahrt – oder dein Verschwinden – zu denken, oder wenn mir unser Streit wieder in den Sinn kommt oder ich dir einen Liebesantrag mache. Solche Gedanken unterscheiden sich von 'gewöhnlichen' Gedanken, sie haben eine einzigartige Intensität und Vitaltät…
Frédéric Worms hat ein schönes Buch zum adressierten Denken geschrieben: "Das Ziel dieses Buches ist einfach: Es besteht darin zu enftalten, warum 'an jemanden denken' nicht dasselbe ist wie 'etwas' denken, dass es aber zugleich auch keine Ausnahme für das Denken oder das Leben darstellt. Vielmehr ist es ein Modell des Denkens und eine Orientierung im Leben."
Gennadi Ajgi – dieser liebenswerte, in russischer Sprache schreibende tschuwaschische Dichter. Vor einigen Jahren, knapp vor seinem Tod, war er in Wien und erzählte von seiner unbehausten Zeit in Moskauer Bahnhöfen…
Ajgis kürzestes Gedicht Genügsamkeit des Selbstlauts! besteht nur aus einem einzigen lang gezogenen A und entfaltet seine Wirkung zwischen den Schulterblättern…
"FELD FRÜHLINGS
der A-Plan sah noch vor, von affirmativer Ästhetik, Henri Pichettes Apoèmes – "logique syncopée, mot-à-motrice, belle et rebelle…" – und nicht zuletzt von (Jean-Paul) Auxeméry zu erzählen.
Andermal ist auch ein Tag.
Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015)